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Über den Wolken - doch mitten drin

Tabea Jäger • Okt. 05, 2023

zwischen Heimat und Zuhause, Festhalten und Loslassen

Festhalten...

Hier sitze ich nun - angeschnallt im Flugzeug irgendwo in 10 Kilometern Höhe über der Küste Brasiliens. Kalt ist es hier in luftiger Höhe - Minus 43 Grad sind für diese luftigen Höhenmeter angesagt. Kalt ist es irgendwie auch in meinem Herzen. Zumindest, was meine Rückkehr nach Deutschland angeht. Weinen kann ich nicht mehr, das habe ich die letzten Wochen zu genüge.

Nach kürzerer Zeit, als gedacht, stiegen wir wieder in den Flieger, um den Weg zurück nach Deutschland anzutreten. So war es doch nicht gedacht, nicht geplant. Entgegen meiner Vorstellungen. Bin ich schon bereit den deutschen Boden zu berühren?
Ein Jahr in Uruguay prägt, es hinterlässt Spuren. Und das ist gut so. Und irgendwie möchte ich mich festhalten. Festhalten an dem Leben dort drüben, an das ich mich doch jetzt so sehr gewöhnt habe. Festhalten an den Routinen im doch so anderen Alltag. Festhalten an einem Lebensstil, der für viele, die dies hier lesen, vielleicht nicht greifbar, nicht fassbar ist. Festhalten an einem Leben zweier, die sich in einem neuen Land finden - ganz persönlich, in der Ehe, in Freundschaften, in unserem Leben mit den Locals, unserem Dienst. Festhalten an der wachsenden Vision für den Ort und die Menschen. Festhalten an unserer kleinen Latino-Gemeinde. Festhalten am Leben am Meer. Festhalten an der Einfachheit. Festhalten am neu-gefundenen Zuhause.

Irgendwann im Verlauf des letzten Jahres legte sich der Schalter um, der plötzlich das Neue als "bekannt", oder sogar "alt" definierte. Ich sagte nicht mehr unter Tränen in schweren Momenten "Ich will nach Hause", denn ich wusste, ich bin Zuhause. Genau jetzt. Genau hier. Und ich liebte dieses neue Zuhause. Ich war angekommen. Voll und ganz...
Wir lebten "all-in". Gaben alles, um die neue Kultur kennen zu lernen. Machten Sport mit den Locals, nahmen Sprachunterricht und bemühten uns von Anfang an, den lokalen Dialekt zu sprechen. Besuchten kulturelle Veranstaltungen und versuchten Freundschaften zu schließen. Luden zum Essen ein und wurden eingeladen. Entdeckten das Land und die Einzigartigkeit des Dorfes. Erforschten und Recherchierten. Trafen uns mit Schlüsselpersonen. Wir waren all-in. Wir überwanden Hindernisse, kämpften, stolperten, machten Fehler, standen wieder auf, machten weiter. Und ich glaube, behaupte, dass dieses "All-in" Teil dessen war, dass das Neue zum mir-Bekanntem wurde und mir half, wirklich anzukommen. Und so hielt ich fest.


... um loszulassen

Doch alles Festhalten an Irdischem, hält doch nur gefangen. Ich öffne meine Hände und lasse los:
Lasse hinter mir ein Land, in das ich mich verliebt habe, mit seinen Schlaglöchern und sandigen Straßen. Lasse hinter mir ein Land, in dem Leid und Luxus so nah beieinander liegen und doch meilenweit voneinander entfernt sind. Ein Land, das mich Geduld lehrte. Ein Land, dessen Kultur und Menschen ich lieben gelernt habe, obgleich ich die Kultur noch lange nicht verstanden habe, sollte die Menschheit überhaupt je an den Punkt kommen, eine Kultur komplett zu verstehen. Ein Land, das mich genauso auch herausfordert.
Ich lasse hinter mir Erfahrungen, die mich Demut lehrten. Schritte, so ganz entgegen meines Stolzes zu handeln. Erfahrungen, die mich lieben lehrten, was mir vorher so fremd schien.


Denn auch das Fremde, lernt man es besser kennen, wird irgendwann zum Bekannten, bis man selbst ein Teil von ihm, dem zuvor Unbekannte, wird.


Ich lasse zurück Asado, Chorizo, günstige Mangos und brasilianische, fruchtige Bananen. Den Laden an der Ecke, wo ich unser Obst und Gemüse kaufte. Unsere französische Freundin, die uns frisch gebackenes Brot und "pain au chocolat" brachte. Unsere Freunde von nebenan, die irgendwie schon Teil von Familie für uns waren.
Lasse zurück die Langsamkeit und Gelassenheit, die ich so sehr liebe, wenn sie sich nicht gerade mit meiner Schnelllebigkeit und Ergebnisorientierung angelegt hat. Einem Teil von mir, der sich ab und zu mal blicken lässt und mir sagt, dass er doch auch gerne mal etwas Beachtung hätte.

Lasse zurück, die wunderschönen Sonnenuntergänge, die jeden Abend so einzigartig sind. Lasse zurück die Nachbarshunde und Nachbarskatzen, die mir echte Tierfreunde wurden. Die kurzen Gespräche mit Bekannten auf der Straße, am Strand oder beim Surfen.

Lasse zurück die vielen Strandspaziergänge, den Kaffee im Garten, und die so lieb gewonnene, weltoffene Marktcommunity, die diese zwei deutschen irgendwie ins Herz geschlossen hat, wenn sie mit Kunst und Kaffee mitten unter den anderen standen.

Lasse los unsere lieb gewonnenen Freunde und die kleine Gemeinde am Ort.

Lasse los, alle letzte Unvergebenheit, die sich manchmal ihren Platz mit absoluter Vergebung streitig macht.

Lasse los.

Lasse los jede geweinte Träne, jedes Unverständnis, jeden geistlichen, emotionalen, wie auch physischen Kampf.

Lasse los.
Lasse los unser Zuhause.
Lasse los und stehe hier, mit leeren Händen vor dir, dem, der mich sandte und sendet, und wieder neu ruft. Um Gott, von dir allein zu empfangen, was mich füllen darf. Was mich zurückführen darf. Zu dir. Zu meiner wahren Heimat.


Ankommen

"Bitte schnallen Sie sich an, die Crew bereitet sich auf die Landung vor", ertönt es im Flugzeug und durchbricht langsam meine noch halb-schlafende Nebelwand. Wir landen schon? Nein, halt! Plötzlich laufen die Tränen die Wangen hinunter. Ich kann noch nicht, will noch nicht landen. In der Luft noch, schien alles so weit weg. Dort oben, über den Wolken, scheine ich für die irdischen Probleme nicht erreichbar zu sein. Ganz ehrlich: Ich mag fliegen. Ich bin gern in der Luft und lasse mich über die Ozeane bewegen, um an einem anderen Ort wieder abgesetzt zu werden. Aber jetzt. Jetzt ist es anders. Plötzlich spüre ich die Schwere, die Last der letzten Wochen umso stärker. Auf dem Boden angekommen, werde ich mit der nackten Realität konfrontiert: Ich bin da. Gelandet. Hamburg, 28.09.2023, 15.00 Uhr. Nicht wissend, wann wir wieder in mein neu-gefundenes Zuhause zurück fliegen...


Die Tage danach scheinen schwer. Habe ich wirklich losgelassen? Habe ich wirklich abgegeben? Das einmalige "vom-Herzen-schreiben" ist vielleicht noch nicht der Prozess, den unser Herz wirklich braucht, um Um- und Abbrüche zu verarbeiten. Und doch weiß ich: Ja, hier stehe ich, mit leeren Händen vor dir - im Alten, und doch so Neuen, um Gott, von dir allein zu empfangen, was mich füllen darf. Um wieder neu anzukommen.


von Tabea 29 Feb., 2024
oder... ist das ein Gegensatz in sich?
von Tabea 08 Feb., 2024
Oder wie ist das eigentlich, an etwas zu bauen, das noch nicht sichtbar ist?
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